Dienstag, 2. Januar 2018

Der Zynismus von Bettelverbote

Ich verstehe Bettelverbote u.a. in den Wr. Linien nicht - deshalb habe ich Wr. Linien geschrieben - anscheinend orientiert sich Wr. Linien nach der Anzahl der Beschwerden (und nicht nach Argumenten - siehe unten).
Im folgenden mein Mailverkehr dokumentiert und ein Kommentar, den ich vielleicht noch breiter veröffentlichen werde.


Sehr geehrter Herr Stoik!
Es sind deutlich mehr Fahrgäste, die sich durch Musikanten mit Sammelbechern und sitzende Menschen mitten im Stationsbereich gestört/belästigt fühlen, als anzunehmen ist. Deshalb ist in unserer Hausordnung geregelt, dass Waren anzubieten und betteln nicht erlaubt ist.
Mit freundlichen Grüßen

Kundendialog

WIENER LINIEN GmbH & Co KG
Erdbergstraße 202
1031 Wien
Telefon +43 (0)1 7909 – 100
Kundendialog@wienerlinien.at
www.wienerlinien.at


Gesendet: Freitag, 22. Dezember 2017 17:06
An: Wiener Linien Kundendialog
Betreff: Aw: M15 18/19209/2017 - Warum Bettelverbot?

Sehr geehrte Damen und Herren!
Sehr geehrte Frau N.N.!
wie kommen Sie eigentlich dazu, ein paar Beschwerden über Bettler*innen mehr Bedeutung zu geben, als den Beschwerden gegen das Bettelverbot - gegen eine schweigende Mehrheit und gegen nachvollziehbare Argumente? Würden Sie z.B. Menschen, die eine andere Hautfarbe haben, verbieten, die Wr. Linien zu benutzen, wenn andere Fahrgäste das verlangen würden?
gespannt auf Ihre Antworten!
mit freundlichen Grüßen,
Christoph Stoik


Am 19.12.17, 15:20, Wiener Linien Kundendialog schrieb:

Sehr geehrter Herr Stoik!
Seit jeher ist betteln ist in unsere Anlagen und Fahrzeugen verboten. Von Zeit zu Zeit sagen wir das durch, nämlich dann, wenn uns wieder viele Beschwerden von Fahrgästen erreichen, weil sich diese durch Betteleien gestört fühlen.
Damit stehen wir zwischen den Fahrgästen, die sich Durchsagen wünschen und Fahrgästen, die diese Hinweise auf das Verbot ablehnen.
Wir bitten um Verständnis.
Mit freundlichen Grüßen

Kundendialog

WIENER LINIEN GmbH & Co KG
Erdbergstraße 202
1031 Wien
Telefon +43 (0)1 7909 – 100
Kundendialog@wienerlinien.at
www.wienerlinien.at


Sehr geehrte Damen und Herren!
ich fühle mich von Ihren Durchsagen, dass das Betteln verboten ist, belästigt. Dass ein Unternehmen in öffentlicher Hand gegen die Ärmsten in unserer Gesellschaft vorgeht ist traurig, unmenschlich und empörend.
ich bitte Sie eindringlich, diese Durchsagen zukünftig zu unterlassen!
mit freundlichen vorweihnachtlichen Grüßen.
Christoph Stoik, MA
(Jahreskartennutzer seit Anfang 1990er Jahre)

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Der Zynismus von Bettelverbote

Das Betteln in öffentlichen und halböffentlichen Räumen (wie in öffentlichen Verkehrsmitteln) rückt gerade zur Weihnachtszeit wieder stärker in den Blick – leider nicht nur aus der Perspektive von Wohltätigkeit. Durchsagen über Bettelverbote in der U-Bahn beispielsweise machen dabei sichtbar, wie verroht unsere Gesellschaft in der Zwischenzeit ist.

Bettelverbote egal in welchen Städten und Ländern, egal ob in öffentlichen Verkehrsmitteln, oder ob sie als „aggressiv“oder „organisiert“ bezeichnet werden, sind wissenschaftlich und mit etwas Menschenverstand nicht vernünftig argumentierbar und eigentlich zynisch. Menschen, die ausgeschlossen sind von einer menschenwürdigen Versorgung mit Wohnraum - mit privaten Rückzugsbereichen, ausgeschlossen von Zugang zu gesunder Ernährung, Erwerbsarbeit und Einkommen, und täglich gefährdet in ihrer Gesundheit, wird auch das Betteln verboten.

Durch betteln wird kein Mensch reich. Und es gibt auch keine „Bettelmafia“, auch wenn das tausendfach behauptet wird. Wenn sich Menschen organisieren, die aufs Betteln angewiesen sind, ist das nur begrüßenswert. Durch die gegenseitige Hilfe lindern betroffenen Menschen ihre Armut ein wenig. Selbst wenn Bettler*innen von anderen ausgenutzt werden sollten, wäre das kein Grund für Bettelverbote, sondern dafür, Programme zu stärken, die Zugang zu Bildung, Arbeit und Wohnraum herstellen. Die Armut wird durch Bettelverbote nicht gemindert. Das Betteln aber lindert die Armut der Betroffenen, auch wenn sie nicht deren Ursachen beseitigt.

Bettelverbote werden damit begründet, dass sich Kund*innen, bzw. Bürger*innen gestört fühlen. Das ist absurd – die „Störung“ ist unverhältnismäßig zu der Not der Menschen, die betteln. Was steckt da dahinter? Wodurch fühlen wir uns eigentlich gestört? Wollen wir die Armut nicht sehen? Oder sehen wir unseren Wohlstand, bzw. die eigene soziale Absicherung bedroht? Es hat wohl mehr psychologische Hintergründe, warum sich manche vom Betteln gestört fühlen.

Noch viel mehr aber stellt sich die Frage, wie politisch Verantwortliche oder öffentliche Unternehmen eigentlich dazu kommen, ein paar Beschwerden über Bettler*innen mehr Bedeutung zu geben, als den Beschwerden gegen das Bettelverbot? Menschen, die sich gegen Bettelverbote richten, gibt es nämlich auch – z.B. die zivilgesellschaftlich organisierte bettellobby.at. Warum wird auf wenige Beschwerdeführer*innen mehr gehört als auf die schweigende Mehrheit? Und wo ist die Grenze? Was wird im Sinne von einigen Beschwerden noch alles entschieden? Würden Menschen einer anderen Hautfarbe ausgeschlossen werden, wenn es dazu Beschwerden geben würde? Wohl nicht. Hoffentlich nicht! Aber warum gibt es dann Bettelverbote, wenn es keine vernünftige und menschlich nachvollziehbare Argumente dafür gibt?

Wien ist eine der reichsten Städte der Welt. Und Wien wandelt sich seit 1989 zu einer internationalen Stadt. Von globalen Städten wissen wir, dass sie Anziehungspunkte für Binnen- und internationale Migration sind. Hier gibt es nicht nur Reichtum, sondern hier gibt es v.a. Arbeitsplätze. Eine globale Stadt zieht billige Arbeitskräfte an. Diese werden für billige Dienstleistungen, für die Versorgung, für die Reinigung, für Botendienste und die Gastronomie gebraucht. Aber auch von Armut betroffene Menschen werden von reichen Städten angezogen. Ihnen fällt etwas vom Wohlstand dieser Städte ab. In modernen Städten im Kapitalismus ist es Normalität, dass diese internationaler werden, vielfältiger aber auch stärker von sozialer Ungleichheit geprägt sind.

Diese Städte sind daher auch mehr herausgefordert mit Armut umzugehen, darüber nachzudenken, wie diese Armut eingedämmt werden kann. Die Schwächung von Sozialsystemen – wie die geplante Reduktion der Mindestsicherung - wird noch mehr Armut auf die Straße bringen. Die Armen zu bekämpfen ist anscheinend leichter oder zumindest opportuner als die Armut zu bekämpfen. So müssen ungerechte Verhältnisse nicht in Frage gestellt werden. Die Bekämpfung der Armen lenkt sogar davon ab, sich mit Ursachen und Hintergründen auseinander zu setzen. Sie wird eingesetzt um politische Macht zu erhalten und zu erlangen. Und sie bringt in Boulevardmedien anscheinend Leser*innen und Inserate.

Wenn wir in einer menschlicheren Gesellschaft leben wollen, wird es nötig sein, neue „urbane Kompetenzen“ zu entwickeln. Wir müssen lernen, mit Widersprüchlichkeiten wie soziale Ungleichheiten umzugehen. Diese „urbanen Kompetenzen“ müssen wir in Bezug auf die öffentliche Debatte, die Medien ebenso entwickeln, wie Politiker*innen und wir alle, die in dieser Gesellschaft leben. Hier haben Medien und die Politik, aber auch öffentliche Unternehmen eine Verantwortung. Sie müssen Argumenten und Fakten folgend Stellung beziehen – gegen Armut und nicht gegen Arme. Wir müssen uns dafür stark machen, dass Verantwortung für die Schwächsten unserer Gesellschaft (wieder) wahrgenommen wird. Oder wir denken wieder ganz grundsätzlicher über gerechtere Formen von Gesellschaft nach. Als ersten Schritt wünsche ich mir für 2018 folgende Durchsage in der U-Bahn: „Behandeln Sie Menschen, die in unseren Verkehrsmitteln betteln, bitte respektvoll. Sie sind ein Teil unser Gesellschaft, wie wir alle.“

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