"gewerbsmäßiges Betteln"

Morgen, 26.3.2010, soll "gewerbsmäßiges Betteln" im Wr. Landtag verboten werden. Ich protestiere mit einem offenen Brief an die Landtagsabgeordnete, die die Initiative einbringen:

Sehr geehrte Landtagsabgeordnete!

Zu Ihrem Initiativantrag zur Veränderung des Landessicherheitsgesetzes muss ich als FH-Dozent für Soziale Arbeit mit dieses offenen Brief entschieden protestieren. Das geplante Verbot des "gewerbsmäßigen Bettelns" und das erweiterte Wegweisungsrecht richtet sich gegen Menschen, die benachteiligt sind, die dadurch noch mehr aus unserer Gesellschaft ausgeschlossen werden und so noch mehr stigmatisiert werden, als sie ohnehin schon sind.

Ich habe Verständnis dafür, dass eine Stadt überlegen muss auf Entwicklungen zu reagieren, die nicht nur kommunal verursacht sind und dabei eingeschränkte Handlungsoptionen bestehen. Zunehmende Armutserscheinungen in der Stadt haben mit mangelhafter nationaler und europäischer Sozialpolitik zu tun, aber auch mit globalen Entwicklungen (z.B. höhere Mobilität).
Die geplanten Maßnahmen sind natürlich auch im Licht der Städtekonkurrenz zu sehen: Wien soll möglichst wenig attraktiv sein für benachteiligte Menschen, damit sie sich in anderen Städten aufhalten und so die Attraktivität des Standorts nicht gefährdet wird.

Abzulehnen ist aber, wenn aus Standortinteressen, eine Politik gegen die Ärmsten unserer Gesellschaft betrieben wird. Das widerspricht völlig der Tradition des roten Wiens, das sich über lange Zeit der Integration von Benachteiligten verschrieben hat.

Die geplanten Änderungen haben folgende Wirkung:

1. Hinter der Formulierung "gewerbsmäßiges Betteln" verbergen sich Unterstellungen, die empirisch nicht nachgewiesen sind, z.B., dass Betteln systematisch organisiert wird, um einfach zu einem Einkommen zu gelangen. Wenn sich Menschen organisieren, die in Armutsverhältnissen leben, um irgendwie zu überleben, ist das noch nicht per se problematisch. Und wenn es im Rahmen dieser Organisation Unterdrückungsmechanismen wirken sollten (die vielleicht auch soziostrukturell begründet sein könnten), dann wäre mehr Wissen darüber nötig, um diese wirksam bekämpfen zu können. Mit der geplanten Formulierung wird ein Vorgehen der Exekutive gegen jede Form von Betteln legalisiert, weil "gewerbsmäßiges" Betteln unausreichend definiert und auch nicht objektiv überprüfbar ist. Weder die dahinterliegende Armut, noch Unterdrückungsmechanismen (die ja auch nicht nachgewiesen sind) werden dabei bekämpft.

2. Dadurch, dass Armut stärker aus dem öffentlichen Raum verdrängt wird, wird sie nicht weniger. Soziale Spannungen werden dadurch nicht minimiert, sondern im Gegenteil: geschürt.
Durch die Maßnahmen wird ermöglicht, kommerziell attraktive Räume von weniger attraktiven Räumen noch mehr zu unterscheiden. Auch das schürt soziale Konflikte in der Stadt, weil die Stadt in "sichere" und "unsichere" Räume gespalten wird.

3. Gerade Menschen mit Benachteiligungen sind auf den öffentlichen Raum besonders angewiesen, weil sie meist nicht über ausreichend privaten Raum verfügen. Durch diese Maßnahmen werden ihnen noch mehr Handlungsmöglichkeiten und Sicherheit genommen.

4. Durch die Formulierung "Belästigung" und "Einschränkung des Gemeingebrauchs" durch "Personen" bzw. "Gruppen", wird aufgrund von äußeren Kennzeichen und von Verhalten Unterscheidungen ermöglicht, was im öffentlichen Raum als erwünscht und was als unerwünscht definiert wird. Dabei stellt sich die Frage, wer das Recht hat diese Definition vorzunehmen. Mit der sehr offenen und schwammigen Formulierung muss der Verdacht aufkommen, dass sich dabei die Interessen durchsetzten werden, die gesellschaftlich stärker vertreten sind. Damit ist zu befürchten, dass wieder die Menschen davon betroffen sind, die ohnehin schon aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden.


Statt der geplanten Maßnahmen, sollte eine sozialverträgliche Politik andere Maßnahmen entwickeln.
Es könnten - neben der Sicherung und Verbesserung der sozialen Sicherheit - Maßnahmen entwickelt werden, die die Toleranz gegenüber Menschen in Armut steigert. Immerhin leben wir in einer der reichsten Gesellschaften der Erde. Es ist unverständlich, dass die kurzen Begegnungen mit ein paar Bettlern oder Wohnungslosen in öffentlichen Einrichtungen mehr aufregt, als die fortschreitende Ausgrenzung dieser Menschen. Es ist nicht nachvollziehbar und vertretbar, dass Neid besonders gegenüber den Ärmsten geschürt wird.

Ich appelliere daher den Antrag zurückzuziehen und stattdessen sozialverträglichere Maßnahmen zu entwickeln.

Mit freundlichen Grüßen,

Christoph Stoik

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